Auf den Spuren eines verschollenen Gefangenen

Scheibenhard(t): Laurent Guillet wandert mehr als 2000 Kilometer auf den Spuren eines Kriegsgefangenen – Gestern überquerte er die deutsch-französische Grenze

Von Matthias Dreisigacker  
 

wandert auf den spuren seines grossonkels kl„Es ist irgendwie ein verrücktes Projekt“, sagt Laurent Guillet. Der Autor aus Trévelo (Bretagne) ist unterwegs auf einem Fußmarsch, der ihn am Ende über 2000 Kilometer bis ins böhmische Most führen wird. Doch er ist nicht das erste Familienmitglied, den das Leben mit dieser gewaltigen Distanz konfrontiert: Sein Großonkel musste diese Herausforderung als Kriegsgefangener annehmen.Guillet sitzt gut gelaunt im Rathaus von Scheibenhard und plaudert mit Bürgermeister Francis Joerger. Es ist eine Zeitreise, die mitunter sehr persönlich wird und tief in das Drama des 2. Weltkrieges hineinreicht. Denn die hierauf folgende deutsch-französische Aussöhnung mag im Mai 1945 zwar für Politiker und Historiker einen Ausgangspunkt gehabt haben. Doch für viele Menschen beider Länder war der Krieg noch lange nicht vorbei. Mancherorts sind seine Folgen noch immer tief in die Familiengeschichten eingegraben.Begonnen hatte alles mit Guillets Buch „Er hieß Joseph“ 2011. Darin zeichnet er den Lebensweg seines Großonkels Joseph Santerre nach, der als deutscher Kriegsgefangener im heutigen Tschechien starb – wie und warum, weiß keiner.

Mit dem Thema Krieg und dessen Folgen hatte er sich schon zuvor beschäftigt. Zwei Jahre zuvor war er Mitherausgeber des Buchs „Des fleurs sur les cailloux“ (Blumen auf den Steinen) gewesen, in dem 32 Kriegskinder mit deutschen Vätern aus den Jahren der deutschen Besatzung ihre Geschichte offenbarten. „Für Frankreich liegen die Schätzungen bei bis zu 200.000. Aber ich vermute, dass es in Deutschland noch mehr Kriegskinder gab und noch gibt, deren Vater ein Franzose war“, sagt Guillet. Noch immer sei dies ein heißes und schmerzhaftes Thema in Frankreich: „Aber man spricht nicht darüber.“ Er wird ernst , wenn er über diese Menschen spricht. Für diese habe es viele Anzeichen gegeben, dass etwas nicht stimmen könne. Oft wurden sie von den Geschwistern nicht gut behandelt und von den Müttern vermehrt geschlagen, erinnert er an deren Schicksal. Zudem hatte er auch nach den einstigen Besatzern seines Heimatorts recherchiert. Und tatsächlich in Weinheim an der Bergstraße einen 1943 erst 19 Jahre alten Wehrmachtsangehörigen ausfindig gemacht. „Er hat mir sehr geholfen, mehr von der damaligen Zeit zu erfahren. Und von ihm bekam ich sogar meinen ersten Deutschkurs. “ All dies verwob sich dann zu seiner Idee einer historischen Schnitzeljagd auf den Spuren seines Großonkels. Hierzu hat Guillet 2014 einen dreisprachigen Führer veröffentlicht, der Tipps und Informationen enthält. Wer die Stempel aller Rathäuser sammelt, erhält ein nummeriertes Diplom ausgegeben. Bis heute wurden fast 40 dieser Auszeichnungen übergeben. An allen Orten, in denen Joseph von 1940 bis zu seinem Tod im März 1945 war, hängen seit 2012 Tafeln aus emaillierten Lavastein, nummeriert und übersetzt in vier Sprachen: In Sarrebourg, Bad Liebenwerda, Hartmannsdorf, Lengenfeld, Plauen, Litvínov und schließlich Most in Böhmen. Hier möchte Guillet nach 83 Wandertagen am 16. August ankommen. Als die erste Tafel in Josephs Geburtsort Trévelo (Limerzel) in Frankreich angebracht wurde, waren 50 europäische Gäste anwesend, darunter der Botschafter der Tschechischen Republik und der deutsche Konsul in Frankreich. Erinnert werden sollte hierbei an die zahlreichen zivilen und militärischen Opfer aller Nationalitäten während des Krieges. Insgesamt acht Gemeinden aus Frankreich, Deutschland und der Tschechischen Republik sind der Biografie von Joseph zugeordnet. Und das Erstaunliche ist, dass alle das Projekt begeistert aufgegriffen haben und es für die kommenden hundert Jahre aufrecht erhalten möchten. Dabei ist Guillet der Bezug auf seinen Großonkel noch nicht einmal das entscheidende Motiv: „Gleichzeitig ist es eine Einladung für Eltern, Großeltern, Kinder und Enkelkindern, um die allgemeine Bildung zu bereichern, Länder zu entdecken, Fremdsprachen zu lernen und ganz besonders die Freundschaft zwischen den Völkern zu pflegen.“ Begleitend zu seinem Projekt stieß der Autor sogar die Idee eines Weg des Friedens aus Bäumen an, der von Josephs Geburtsort bis nach Tschechien führen soll. Bis heute wurden 13 dieser Friedensbäume gepflanzt. Auch dass Guillets Partnerin Gabriela aus Dresden stammt, fügt sich in die Geschichte ein. „Seit 1989 ist sie frei. Bis dahin hat auch sie für die Konsequenzen des Krieges bezahlen müssen“, zieht der Bretone einen weiten Bogen. Von irgendjemandes Schuld spricht er allerdings nicht: „Ich als Franzose fühle mich auch nicht für Algerien oder Indochina schuldig. Ich bin frei.“ Bürgermeister Joerger wiederum war vor wenigen Wochen in Oradour-sur-Glane gewesen. „Wenn man das sieht, dann ist man nur schockiert“, sagt er traurig. Das Dorf wurde von der Waffen-SS völlig zerstört und die Bevölkerung massakriert. Für Joerger steht die Antwort auf die Frage des „Warum“ noch immer aus. Guillet formuliert es allgemein: „Die Friedensbäume sind wichtig, weil was passiert ist, noch immer passieren kann. Sie sind eine Erinnerung für uns alle.“ Noch ein Imbiss in Scheibenhard, dann geht er weiter. Natürlich zu Fuß, in ein Auto wird er in den kommenden Wochen nicht einsteigen.

 

Quelle: DIE RHEINPFALZ, Pfälzer Tageblatt - Ausgabe Rheinschiene, Freitag, den 13. Juli 2018